Trotz oder gerade wegen des bevorstehenden Brexit lohnt sich ein Blick auf das Unternehmensstrafrecht in England – neben den USA das Mutterland in Sachen Unternehmensstrafrecht. Im Vergleich zu den USA hatte die „corporate criminal liability“ bei der Verfolgung von Unternehmenskriminalität in der Vergangenheit, trotz ähnlicher historischer Wurzeln, jedoch deutlich geringere Relevanz. In den letzten Jahren kam es jedoch zu einigen interessanten Gesetzesänderungen, die geeignet sind, das englische Unternehmensstrafrecht zu einer wirksameren Waffe im Kampf gegen Unternehmenskriminalität zu machen.
Die Geschichte der strafrechtlichen Verantwortung von Unternehmen in England und Wales (Schottland verfügt über eine eigene Strafrechtsordnung, ebenfalls mit Unternehmensstrafrecht) reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch wenn sich England und die USA im Strafrecht auf eine gemeinsame Common-Law-Tradition berufen und beide Staaten als Mutterländer des Unternehmensstrafrechts gelten, unterscheiden sich ihre Modelle doch wesentlich voneinander.
So beschränkte sich die Strafverfolgung zunächst gemäß der Doktrin der „vicarious liability“ auf verschuldensunabhängige „regulatory offences“, welche in Österreich typischerweise in den Anwendungsbereich des Verwaltungsrechts fallen würden.
Zur Verfolgung von „mens rea“-Delikten, entwickelten Richter Mitte des 20. Jahrhunderts ein Modell basierend auf der „identification-“ bzw „alter ego doctrine“: Danach verkörpern die obersten Organe eines Unternehmens das Unternehmen als solches und ihr Handeln ist im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit mit dem Handeln des Unternehmens ident. Zu dem die Verantwortlichkeit auslösenden Personenkreis zählen lediglich Personen, die an der Spitze der Hierarchie des Unternehmens stehen („high ranking corporate officials“) und denen umfassende oder sogar unbeschränkte Vollmachten eingeräumt sind, wie etwa Vorstandsvorsitzenden oder Geschäftsführern („company directors“). Die Leitentscheidung zur „identification doctrine“ im Unternehmensstrafrecht ist der Fall Tesco (Tesco Supermarkets Ltd v. Nattrass [1972] AC 153) aus dem Jahr 1972.
Gerade für große Unternehmen, die oft dezentral organisiert sind, greift das Konzept eines oder einiger weniger „corporate minds“ zu kurz. Zum engen Personenkreis, welcher die Strafbarkeit von Unternehmen auszulösen vermag, tritt der Umstand hinzu, dass wichtige Deliktsgruppen vom Anwendungsbereich des Unternehmensstrafrechts überhaupt ausgenommen sind. So sind insbesondere Straftaten ausgeschlossen, die ausschließlich mit Freiheitsstrafe bedroht sind.
Am 6. April 2008 trat schließlich der „Corporate Manslaughter and Corporate Homicide Act 2007 in Kraft, durch welchen ein eigener Straftatbestand für die fahrlässige Tötung durch Unternehmen geschaffen wurde. Demnach werden Unternehmen für eine fahrlässige Tötung strafrechtlich verantwortlich, wenn die Art und Weise, in der die Aktivitäten durch die Führungsebene („senior managers“) organisiert und durchgeführt wurden, den Tod einer Person verursacht hat und diese eine schwere Pflichtverletzung gegenüber dem Getöteten dargestellt hat („amounts to a gross breach of the duty of care it owes to the deceased“).
Eine besonders weitreichende Unternehmensverantwortlichkeit für Korruptionsdelikte von Mitarbeitern sieht der im Jahr 2011 in Kraft getretene UK Bribery Act 2010 vor, welcher daran anknüpft, dass Mitarbeiter zu Gunsten des Unternehmens oder im Rahmen des Unternehmens die strafbare Handlung begangen haben. Die Unternehmensverantwortlichkeit wird nur dadurch ausgeschlossen, wenn das Unternehmen nachweist, dass es angemessene Maßnahmen zur Verhinderung der Straftat getroffen hat.
Neben den legislativen Reformen hat zuvor bereits die Judikatur zu einer vorsichtigen Ausweitung des Unternehmensstrafrechts geführt.
2014 wurde zudem, angelehnt an die Regelung in den USA, die Möglichkeit geschaffen, „deferred prosecution agreements“ zu schließen, bei welchen Staatsanwaltschaft und Unternehmen – unter Aufsicht des Gerichts – die Zahlung einer Geldstrafe, Entschädigungen für Opfer sowie unternehmensinterne Reformen und Compliance-Programme vereinbaren können und nach Erfüllung der Vereinbarung die Anklage fallen gelassen wird.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich das Unternehmensstrafrecht in England zwar nach wie vor auf einen vergleichsweise engen Anwendungsbereich beschränkt und nicht alle Straftaten erfasst. Dennoch ist auch in England, insbesondere mit dem Inkrafttreten des „Corporate Manslaughter and Corporate Homicide Act 2007“, eine Tendenz zu einer Erweiterung des Unternehmensstrafrechts erkennbar.
Auszug aus Kathollnig, Unternehmensstrafrecht und Menschenrechtsverantwotung, Wien 2016, für weiterführende Literatur siehe auch Wells, Corporations and Criminal Responsibility2, Oxford 2001, Forster, Verantwortlichkeit für Straftaten in Unternehmen, Verbänden und anderen Kollektiven in England und Wales, in: Sieber/Cornils (Hg), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Band 4, Berlin 2010,
